Ein Fremder by Amarok
Summary:

Manchmal ist es schwer, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, vor allem wenn man erst zwölf Jahre zählt. Was wird ein Mädchen aus Bree tun, wenn sie plötzlich einer Situation ausgesetzt ist, die der ähnelt, deren Auswirkungen das Leben ihrer Familie zerstörte?


Categories: Third Age - Pre LOTR Characters: Aragorn, Halbarad
Genres: Angst, Drama
Language: German
Warnings: None
Challenges:
Series: None
Chapters: 1 Completed: Yes Word count: 5498 Read: 2053 Published: 06/08/10 Updated: 06/08/10

1. Ein Fremder by Amarok

Ein Fremder by Amarok
Author's Notes:

Disklaimer: Ich habe keine Rechte an den bekannten Charakteren und Schauplätzen, und verdiene kein Geld mit dieser kleinen Story.

Im Jahre 2985 des Dritten Zeitalters, April

Miryam rieb mit wütenden Bewegungen den feuchten Lappen über den kleinen Holztisch, an dem sich zwei der Waldläufer niedergelassen hatten. Sie kamen nur selten, zahlten immer mit guter Münze und machten ihr keine Schwierigkeiten, aber dennoch hasste Miryam diese Männer mit jeder Faser ihres jungen Herzens.

Schließlich war es einer dieser finsteren Gesellen gewesen, der für das Unglück ihrer Familie verantwortlich war. Wenn der Fremde nicht gewesen wäre, wäre das Leben so viel einfacher und schöner.

Miryam konnte sich nur vage an die lange Reise erinnern, die sie und ihre Eltern vor einigen Jahren aus der Heimat in dieses fremde wilde Land geführt hatte. In Ithilien war sie geboren und aufgewachsen. Dort kannte sie jeden Busch und Baum rund um den kleinen Hof, den ihre Eltern bewirtschaftet hatten. Sie war vertraut mit den Hühnern und den zwei Schweinen, und hatte früh gelernt, das Pferd, das den Pflug oder auch den Karren zog, zu versorgen und zu lenken.

Aber all das war nicht mehr. Schweine und Hühner hatte die kleine Familie bei ihrem Aufbruch zurücklassen müssen. Das alte Pferd, das auf den Namen Kor gehört hatte, war, noch bevor sie die Pforte von Rohan erreicht hatten, gestorben.

Und ihr Vater hatte auf dieser Reise seinen Lebenswillen verloren. Und mehr. Schemenhafte Bilder blitzen vor Miryams innerem Auge auf. Erinnerungen...

... an den heiseren Schrei des Vaters, der in den Wald gegangen war, um das Abendessen zu fangen. Dann das laute Wehklagen der Mutter nur wenige Minuten später...

... rostig-metallene Zähne, die sich tief in das empfindliche Schienbein, knapp über dem Knöchel, graben und sich langsam rot färben. Der Gestank von Blut und Angst...

Wie aus weiter Ferne hörte Miryam den älteren der zwei Waldläufer sprechen: „Können wir bitte zwei Krüge Bier bekommen?“

Sie hob den Kopf, blitzte den Waldläufer, der die Kapuze seines Mantels zurückgeworfen hatte und dessen dunkles Haar um seine hageren stolzen Züge fiel, wütend an, und stapfte davon. Noch bevor sie außer Hörweite war, hörte sie den jüngeren raunen: „Was hat die Kleine denn gegen Dich, Halbarad?“

„Ignoriere ihr Benehmen, Halbond. Sie hat ihre Gründe...“

Mehr hörte Miryam nicht, und es interessierte sie auch nicht, was die Männer über sie wussten oder zu wissen glaubten. Sie war nicht die einzige, die die Waldläufer hasste. Butterblüm zeigte es als guter Geschäftsmann nicht, aber er fürchtete die düsteren Gestalten, die nur selten aus ihren Wäldern nach Bree kamen, und so gut wie nichts über sich preisgaben, wenn der neugierige Wirt versuchte, sie auszuhorchen. Und die meisten der Bewohner von Bree sahen die Waldläufer lieber gehen als kommen.

Während sie die zwei Krüge füllte, sich nur mühsam beherrschend, das wohlschmeckende honiggelbe Nass nicht mit Pferdepisse aufzumischen, stieg ein weiterer Erinnerungsfetzen in ihr hoch.

... sie bekommen die Falle nicht auf, weder mit Geschick noch mit Kraft. Stunden vergehen, die Nacht kommt, der nächste Morgen, und noch immer steckt des Vaters Fuß fest im grausamen Griff der metallenen Zähne...

Sie verdrängte die Bilder mit Gewalt, zwang das Entsetzen zurück und konzentrierte sich auf die zwei vollen Becher Bier, die sie vor die Waldläufer stellte. Nur nicht in ihre Gesichter sehen, nicht auf das dunkle Leder der langen Mäntel starren... Aber es half nichts, weitere Eindrücke stiegen in ihr auf...

... ein Fremder im langen dunkelgrünen Mantel, der plötzlich aus den Bäumen hervortritt, hager und ernst, furchteinflößend trotz seiner leisen Stimme. Mehr als einen Tag ist vergangen, alle Hoffnung scheint verloren, der Vater hat seit dem Morgengrauen kein Wort mehr gesagt, liegt reglos, wie tot...

Den Tod wünschte sie auch diesen Männern, von denen sie sich nun hastig abwandte. Die kleine Kupfermünze, die auf dem Tisch lag, ignorierte sie. Die Bezahlung für das Bier hatte der Ältere ihr bereits gegeben, mehr würde sie von diesen Männern nicht annehmen.

Ein weiterer Gast, ein Hobbit, der an Markttagen Lederwaren verkaufte, und einen kleinen Laden unterhielt, wo er Zaumzeug, Schuhe und andere Dinge flickte, hielt sie auf und fragte, mit einem Kopfnicken zu den zwei Waldläufern hin: „Reden sie über den Streicher? Ich habe gehört, er sei gesehen worden.“

Streicher.

... ein Gesicht, hager, fast hohlwangig, Stirn und Wangen mit einer Mischung aus Blut und Dreck verklebt, dunkles, schweißnasses Haar halb aus dem Lederriemen gelöst, der die Haare im Nacken zusammenhält. Die Augen zu Schlitzen verengt, während wüste Beschimpfungen auf ihn niederprasseln. Eine Hand, die kurz zum Schwertgriff gleitet, nur um dann betont locker herabzuhängen...

„Hier gibt es keinen mit Namen Streicher.“, antwortete Miryam, und sie war selbst erschrocken über den aggressiven Unterton in ihrer Stimme.

In dem Moment hört sie hinter sich die tief dröhnende Stimme des alten Butterblüm: „Aber ja doch, er war neulich tatsächlich hier, spät des Abends. Miryam war schon zu Hause, deshalb weiß sie es nicht besser. Geh die anderen Gäste bedienen, Mädel, los.“

„So habe ich es gehört. Aber wie kann das sein? Er müsste längst tot sein. Er war bereits ein Mann in besten Jahren, als ich noch ein Knabe war.“, sagte der Hobbit.

„Es ist sicher sein Sohn, der nicht nur den Namen, sondern auch die Züge des Vaters geerbt hat. Kein Mann kann so lang leben, und ganz gewiss nicht einer der Waldläufer. Das Leben draußen ist hart und karg, aber sie scheinen es ja nicht anders zu wollen...“

Miryam hörte nicht weiter zu, sondern wandte sich wie aufgefordert einem neu hinzugekommenen Gast zu, dem Schmied von Bree, der sich schwerfällig an seinen vertrauten Tisch setzte, um das Mittagsmahl zu sich zu nehmen.

Auch für Miryam und die Eltern war das Leben nicht leicht, dachte sie bitter. Sie wohnten außerhalb von Bree, und sie wurden auch trotz der knapp vier Jahre, die sie hier lebten, noch immer fast wie Aussätzige behandelt. Auch dies war die Schuld des Fremden, sie wusste es genau.

Sie konzentrierte sich auf den Schmied, wie es ihre Aufgabe war, um ihren Teil an Geld für den elterlichen Haushalt herbei zu schaffen. Seit zwei Jahren, seit sie zehn Jahre zählte, arbeitete sie tagsüber für den alten Butterblüm im Tänzelnden Pony. Die Arbeit war hart, aber Butterblüm war ein gerechter Mann, und sein Sohn Barliman, der nur wenige Jahre älter war als sie, war eines der wenigen Kinder in Bree, dass sie nicht wegen ihres Vaters neckte.

Sie eilte zurück in die Küche, um dort zu helfen. Selbst das ihr sonst so verhasste Geschirrspülen war besser als weiterhin die Waldläufer sehen zu müssen. Mit einem verwunderten Blick übernahm Butterblüms Frau den Job des Bedienens.

* * * * *

Müde kehrte Miryam am Abend heim ins elterliche Haus, in einem kleinen Seitental. Die Mutter bewirtschaftete einen kläglichen Gemüsegarten. Die wenigen Hühner, die nicht den Füchsen zum Opfer gefallen waren, unterstanden Miryams Verantwortung. Wie jeden Abend kontrollierte sie den Zaun und den Verschlag, flickte mit Weiden die kaputten Stellen, nur um dann vom verbitterten Vater gescholten zu werden, dass sie die kostbaren Zweige verschwendete.

Als wenn er damit etwas besseres tat, dachte sie zornig. Noch immer waren der Mutter Körbe viel schöner und stabiler und verkauften sich besser, aber das konnte der Vater nicht ertragen, sodass in wortloser Übereinkunft inzwischen nur noch der Vater die Dinge flocht, die die Mutter dann meist vergeblich versuchte, auf dem Markt in Bree zu verkaufen.

Als Miryam sich am Abend auf ihr ärmliches Strohlager nahe der Tür warf, und in unruhigen Schlaf fiel, kamen weitere Bilder hoch, von jenem verhängnisvollen Tag vor beinahe vier Jahren...

... die Mutter kniet an des Vaters Seite, wehklagend, unfähig, bei der Entscheidung zu helfen, die der Fremde treffen muss...

... Miryam, die verstört an einen breiten Baumstamm gepresst sitzt, wo sie bereits seit Stunden reglos verharrt, weiß nicht was das Wort Blutvergiftung bedeutet, aber sie merkt, dass der Fremde lange zögert, bevor er sie und die Mutter wegschickt, um Feuerholz zu sammeln und Wasser vom fernen Fluss zu holen...

Miryam schreckte aus dem verhassten Alptraum auf, den sie schon so oft hatte, und setzte sich zitternd auf. Von draußen schien der Mond hell in die kleine Hütte, die aus nur einem einzigen Raum bestand. An der Wand unter dem Fenster lagen Vater und Mutter, nebeneinander und doch einander fremd. Miryam war jung, aber sie ahnte, dass es nicht immer so war zwischen den Eltern. Einst, früher, schliefen sie enger beieinander. Gelächter war manchmal zu hören, und andere Geräusche, die ein wenig unheimlich, aber doch auch vertraut waren.

Seit jenem verhängnisvollen Tag im Wald, auf der Reise von Ithilien nach Bree, teilten die Eltern zwar noch immer Hütte und Lager, aber nichts war mehr wie früher. Die Mutter sprach kaum noch, der Vater schimpfte fast nur. Um die Tochter kümmerten sie sich beide nur wenig.

Der Fremde war schuld. Der Vater sagte es jeden Tag aufs neue.

Heute Nacht würde sie nicht mehr schlafen können. Leise erhob sie sich, und suchte bei dem Licht, das der Mond durch das Fenster warf, ihren groben Wollmantel und das kleine Messer. Sie würde Kräuter sammeln gehen. Dies bei Nacht zu tun würde die Gedanken fernhalten, denn es forderte ihre gesamte Konzentration.

* * * * *

Als sie Wolfsgeheul hörte, erschrak sie. So nah waren die Bestien ihr noch nie gekommen. Erschrocken blickte sie um sich, und erkannte, dass sie in ihrer Anspannung weiter gegangen war als sie es sonst zu tun pflegte. Angst überfiel sie, umklammerte ihr Herz mit eiserner Faust. Sie rannte los, heimwärts. Aber schon nach wenigen Schritten hielt sie inne. Stimmte die Richtung überhaupt?

Sie unterdrückte einen Schluchzer. Sie hatte sich verlaufen. Wo lag das heimatliche Haus, das ihr plötzlich so warm und schützend vor kam. Wenn sie doch nur daheim geblieben wäre. Was waren schon ein paar Alpträume im Vergleich zu der Gefahr, die von den Wölfen ausging. Wieder erklang ein Heulen, deutlich lauter als zuvor. Voller Schrecken rannte sie in die entgegengesetzte Richtung.

Aber schon bald erklang das Heulen rings um sie herum. Sie schrie vor Angst um Hilfe, versuchte in Hast auf einen Baum zu klettern, schaffte es aber nicht. Mit dem Rücken an einen Baumstamm gepresst hielt sie schließlich das Messer vor sich, und blickte sich panisch um. Dort, im Gebüsch, meinte sie gelbe Augen leuchten zu sehen. Von der Seite her näherte sich ihr ein Schatten. Sie hob die zitternde Hand mit dem kleinen Messer, das vermutlich kaum taugte, einem Kaninchen die Kehle zu durchtrennen. Aber es war das einzige, was zwischen ihr und den herankommenden Bestien stand.

Der Schatten setzte zum Sprung an, und Miryam verkrampfte sich. Und plötzlich, im letzten Moment, huschte eine Gestalt vor sie und empfing den Wolf im Flug mit gezücktem Schwert.

Miryam verfolgte atemlos den Kampf des Mannes gegen das Rudel von sechs Wölfen. Er war geschickt, tötete die ersten drei Wölfe fast schneller als Miryam mit den Augen folgen konnte. Aber die vierte Bestie schaffte es, sich in den Schwertarm des Mannes zu verbeißen. Mit einem heiseren Schrei riss er mit der linken einen Dolch aus dem Gürtel und stach auf das schwarze Ungetüm ein, das an seinem Handgelenk hing. Mit einem weiteren Schrei ging der Mann zu Boden, als ein anderer Wolf ihm in den Rücken sprang.

Miryam löste sich aus der Schreckstarre, in die sie verfallen war, und warf sich ihrerseits auf den grauen, kleineren Wolf, der versuchte den Nacken des Mannes zu fassen zu bekommen. Mit ihrem kleinen Messer stach sie in das graue Fell, und wütend schnappte der Wolf nach ihr.

Wie er es schaffte, wusste Miryam nicht, aber der Mann, halb begraben unter dem grauen Wolf, die Rechte noch immer im festen Griff des Mauls des großen schwarzen Untiers, brachte es fertig, sich weit genug zu drehen, um mit einem gut gezielten Dolchwurf den grauen Wolf zu erlegen, der wütend nach Miryam schnappte. Aufjaulend sprang das Tier zur Seite, sank zu Boden, zuckte noch einige male mit den Pfoten, dann lag es still. Der verbleibende Wolf verschwand im Wald.

Miryam, die zurückgewichen war, als der graue Wolf sich ihr zuwandte, taumelte einige weitere Schritte zurück. Sie starrte auf den Mann am Boden, dessen Handgelenk noch immer im festen Griff der Wolfszähne war. Der Wolf rührte sich nicht, der Mann jedoch versuchte bereits, seine Hand zu befreien.

Aber alles was Miryam vor ihrem inneren Auge sah, war der Vater, wie er da lag, als die Mutter und sie vor Jahren mit Holz und Wasser zurückgekehrt waren.

... als sie über eine Stunde später wiederkommen, kniet der Fremde mit gesenktem Haupt an des Vaters Seite, die eine Hand auf seiner Stirn, die andere auf seinem Arm. „Er wird es überleben.“, murmelt er, ohne sie anzusehen...

... wo zuvor der Stiefel endete, ist nun ein dunkler Stoff, der langsam noch dunkler wird, Teil eines Kleidungsstücks vermutlich. Miryam sieht die komplizierten Stickmuster, feine weiße Linien auf grünem Grund. Die weißen Linien werden langsam rot. Sie fragt ihre Mutter, wo Falle und Stiefel sind. Aber es ist der Fremde, der ihr schließlich leise antwortet, auch wenn sie die Antwort in diesen Minuten noch nicht wirklich begreift. Das Wort Amputation hat sie noch nie zuvor gehört...

Sie starrte auf den Mann vor sich, den Mann der ihr eben das Leben rettete. Sein dunkelgrüner Mantel war teilweise zerrissen. Das lange Schwert, das die gefangene Rechte noch immer umklammerte, war nass und dunkel vom Blut der Bestien. Stöhnend drehte er sich noch etwas mehr auf die Seite, versuchte sich aufzurichten und sackte wieder zu Boden.

Dann versuchte er ein weiteres mal, mit der Linken das Maul des Wolfs zu öffnen, aber noch im Tod schien das Tier entschlossen, nicht von seiner Beute abzulassen. Mit einem Stück Holz, dass seine tastenden Finger gefunden hatten, bemühte sich der Fremde, das Maul aufzuhebeln, aber er schaffte es nicht. Erneut stöhnte er auf, und dann sank auch die Hand mit dem Stock langsam in das Laub.

Miryam machte einen Schritt auf ihn zu und trat dann halb um ihn herum, um in das vom fahlen Mond beschienene Gesicht blicken zu können. Es war der Fremde aus ihrem Alptraum. Streicher. Der Mann, der am Elend des Vaters schuld war, und am ganzen Unglück, das seither ihre kleine Familie auf Schritt und Tritt zu verfolgen schien. Miryams erster klarer Gedanke war, wie gerecht die Götter doch sein konnten, dass sie nun ihm das gleiche Schicksal bescherten. Sicherlich würde er seine Hand verlieren, so wie der Vater den Fuß verloren hatte. So sehr unterschieden sich die grausamen Raubtierzähne nicht von den rostigen Zacken einer eisernen Falle.

Wie in Trance kniete sie neben Streicher nieder, ergriff den Unterarm oberhalb der Stelle, wo die weißen scharfen Zähne des Wolfs im Fleisch staken, und hob ihr Messer, das sie noch immer fest umklammerte, um damit das zu tun, was der Fremde einst mit ihrem Vater getan hatte. In ihrem Kopf hörte sie wieder die Worte, die er damals sprach.

... „Es musste getan werden. Zu lange war er in der Falle. Er hätte sonst nicht überlebt“. Rau, fast heiser, ist die Stimme, und dennoch so leise, wie der Hauch eines Windes, nicht wie der Sturm, der in ihr wütet. Die Mutter sagt kein Wort, als sie neben dem reglosen Vater nieder kauert...

Miryam setzte das Messer an, ohne sich Gedanken darum zu machen, was passieren würde, wenn sie wirklich tat was sie plante. Sie zählte gerade erst zwölf Jahre, und sie handelte wie unter einem Bann. Die Hand, die sich plötzlich fest um ihren Unterarm schloss, riss sie in die Wirklichkeit zurück. Mit einem erschreckten Aufkeuchen versuchte sie sich zu befreien, aber der Waldläufer hielt sie in eisernem Griff.

„Was planst du?“, fragte er mit einer Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hatte sie schon gehört, in genau der gleichen Tonlage sprechend, einer Mischung aus leichtem Vorwurf und gleichzeitig um Vertrauen werbend.

... „Ich weiss, dass Ihr Schmerzen habt, und unter Schock steht. Euer Verlust ist groß, aber bedenkt, noch seid Ihr am Leben. Ich will Eure Worte vergessen, und biete Euch meine Hilfe an-“ Wieder schreit und tobt der Vater, lässt den Fremden nicht weiter sprechen. Weder sanftes Zureden noch rauer gesprochene Worte der Mahnung erreichen den verzweifelten Vater, der bis vor wenigen Stunden in der Lage war, eine Familie zu ernähren, und nun zur Last geworden ist. Erst die Ohnmacht sorgt erneut für Ruhe, wenigstens für ein paar Stunden, in denen der Fremde erfolglos versucht, die Mutter mit Worten zu erreichen, und schließlich der Tochter zeigt, wie ein Verband gewechselt wird...

„Was getan werden muss.“, antwortete Miryam tonlos, ohne den Fremden anzusehen.

Wieder versuchte er, sich aufzurichten, und wieder sackte er mit einem schmerzverzerrten Gesicht zu Boden, bevor er sich mehr als wenige Zentimeter erhoben hat. Suchend fuhr Miryams Blick über seine Gestalt, den verhassten Mantel und die dunklen wirren Haare, kaum gepflegter als bei ihrer letzten Begegnung.

Lange scharfe Krallen hatten tiefe Furchen in den Rücken des Waldläufers gegraben, auch der Lederne Mantel konnte das nicht verhindern. Die Pfütze aus Blut am Handglenk des Mannes wurde rasch größer, und Miryam konnte erkennen, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, wenigstens den Kopf so weit erhoben zu halten, um sie ansehen zu können. Aber noch immer hielt er ihre Hand eisern umklammert, sodass sie die Prozedur, die ihn retten mochte, und dabei sein Leben so zerstören, wie das des Vaters zerstört war, nicht durchführen konnte.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wie die Prozedur ging, obwohl sie die Heilkundigste in der Familie war. Nelena, die alte Frau in Bree, die als Heilerin ein wenig Geld verdiente, hatte sie gelehrt, welche Pflanzen bei Husten und Magenweh und anderen kleineren Beschwerden verwendet werden konnten. Das versorgen von Wunden hingegen hatte sie bereits viel früher erlernt...

... fast atemlos vor Furcht und Ekel kniet sie neben dem Fremden, der ihr leise erklärt, wie man die richtigen Kräuter auf blutende, eitrigstinkende Wunden legt und das Leinen so bindet, dass es hält, aber nicht das Blut abschnürt...

Sie holte tief Luft, versuchte, die alten Bilder von der neuen Situation zu trennen, aber der Geruch von Angst und Blut trug sie zurück in jene schrecklichen Tage und Nächte. Streicher sprach mit ihr, aber sie hörte seine Worte nicht.

Sie kämpfte gegen den Griff des Mannes an, aber er gab nicht nach, sie bekam die Hand nicht frei. Der Schmerz des festen, beinahe groben Griffes brachte sie schließlich wieder zur Besinnung. Sie sah ihn an, und sagte: „Sag mir wie man es macht.“

„Wie man was macht?“, fragte er heiser.

„Wie muss ich schneiden, um die Hand abzutrennen?“

Er starrte sie an. Erst nach ein paar Herzschlägen antwortete er: „Es ist nicht nötig, die Hand abzutrennen.“

„Doch. Du hast es gesagt, damals.“

Er runzelte verwundert die Stirn, und wiederholte leise, aber eindringlich: „Ich denke nicht, dass es solch drastischer Maßnahmen bedarf. Lass mich erst etwas anderes versuchen.“

Sie ließ seinen Arm los und lehnte sich etwas zurück, und diesmal entließ er ihre Hand. Dann bemühte er sich erneut, seine Rechte aus dem Maul des schwarzen Wolfs zu befreien. Aber wieder scheiterte er. Sein Atem ging immer rascher und kürzer, und er wirkte unnatürlich bleich im fahlen Mondlicht. Die Blutlache vergrößerte sich, und seine Bewegungen wurden schwächer. Schließlich sanken Hand und Kopf wieder auf den Boden.

Miryam hatte sich inzwischen den Dolch des Mannes, mit dem er den grauen Wolf getötet hatte, angeeignet und kniete nun neben ihm. Als er reglos lag, die Augen halb geschlossen, und darum kämpfte, seinen Atem zu beruhigen, sagte sie in ihrer vernünftigsten Stimme, wie sie fand: „Nun siehst du es selber, die Hand muss ab. Erklär mir, was ich tun muss.“

Er hatte Angst, das konnte sie sehen. Ihr Vater hätte sicher auch Angst gehabt, wenn er bei Bewusstsein gewesen wäre. Die Prozedur war bestimmt schrecklich und schmerzhaft, sie mochte es sich gar nicht ausmalen. Plötzlich überkam sie eine Welle des Mitleids mit dem Waldläufer, der hilflos vor ihr lag und darum kämpfte, weder seine Fassung noch sein Bewusstsein zu verlieren.

„Wo...“, er leckte sich über die Lippen, bevor er noch einmal ansetzte: „Wo wohnst du? Kannst du einen Erwachsenen holen?“

„Mein Vater kann nicht mehr laufen, seit du seinen Fuß abgeschnitten hast. Und meine Mutter versteht nichts vom Heilen. Außerdem habe ich mich verirrt.“ Erst jetzt wurde ihr klar, dass auch sie in einer misslichen Lage steckte. Sie unterdrückte jedoch die aufsteigenden Tränen und auch die besorgten Fragen, die in ihr aufstiegen. Die letzten Jahre hatten sie die Nutzlosigkeit von beidem gelehrt. Der Tag würde bestimmt Hilfe bringen, oder zumindest genug Licht, damit sie den Weg nach Hause selbst finden konnte.

Streicher war bei ihren Worten noch bleicher geworden. Vielleicht erinnerte er sich nun daran, was er vor vier Jahren getan hatte. Mit verzweifelter Energie zerrte er an dem rechten Arm, aber alles was er erreichte, war dass der Wolf ein paar Zentimeter über den Boden rutschte, und das die Lache an seinem Handgelenk sich noch schneller vergrößerte.

„Das solltest du nicht tun. Wenn du mir sagst, wo ich schneiden muss, befreie ich dich. Dein Dolch ist sicher scharf genug dafür.“ Sie hob seine Klinge, damit er sie sehen konnte, und legte wieder ihre Linke auf seinen rechten Arm.

„Tue es nicht. Ich würde es nicht überleben...“ Er lag jetzt still, sah sie eindringlich an. Die Panik hatte er aus seinem Blick vertreiben können, aber ein heftiges Zittern erfasste inzwischen seine gesamte Gestalt. Er schaffte es nicht mehr, den Kopf zu heben, und auch die Hand, mit der er sie zuvor festgehalten hatte, sank kraftlos wieder zu Boden, kaum dass er sie etwas anhob.

„Aber du hast es doch auch gemacht. Und mein Vater lebt noch.“

„Es ist eine schwere Operation, dazu gehört mehr als nur zu schneiden. Glaube mir bitte, du würdest mich töten.“ Seine Stimme warb um Vertrauen, und schmerzerfüllte Augen versuchten auszudrücken, was seine immer leiser werdende Stimme kaum noch äußern konnte. Bald würde er in Ohnmacht versinken, und noch immer wusste sie nicht, was sie zu tun hatte.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, in das Fleisch zu schneiden. Vom Zerlegen einiger Kaninchen und Hühner wusste sie, dass Knochen nur schwer zu zertrennen waren. Und der Arm des Mannes sah kräftig aus. Außerdem war ihr noch immer unklar, wie sie so eine große Wunde verschließen sollte. Auf des Vaters Stumpf war Haut gewesen, aber sie wusste nicht genau, wie sie dorthin gelangt war.

Sie gestand sich ein, dass sie Angst hatte. Dass sie ihm gar nicht die Hand abschneiden wollte. Langsam ließ sie ihren Arm, der, dessen Hand den Dolch hielt, sinken. „Was kann ich denn dann tun? So kann dein Handgelenk doch nicht heilen...“ flüsterte sie.

Er schloss die Augen und holte zitterig Luft, einmal, ein zweites und dann ein drittes Mal, und Miryam wurde immer besorgter, weil er nicht sprach.

Aber schließlich brachte er hervor: „Im Nacken des Wolfs sind Muskeln, die die Kiefern auch im Tod zusammengepresst halten. Wenn du diese durchtrennst, kann ich vielleicht meinen Arm befreien.“

„Gut,“ sie war erleichtert, endlich etwas tun zu können, und wendete sich sofort eifrig dem Kopf des Tieres zu, fuhr mit ihren Fingern durch das noch immer warme Fell. „Ist es hier richtig?“

„Nein, etwas höher, und mehr zum Kopf hin..., ja versuch es da. Du musst tief schneiden.“

Jetzt, wo der Moment gekommen war, fiel es ihr viel schwerer als sie erwartet hatte, und plötzlich überkam sie tiefe Dankbarkeit, dass sie nicht seinen Arm durchtrennen musste. Sicher hätte er vor Schmerzen geschrien, und sie wollte ihm nicht wehtun, auch wenn er ihrem Vater, ihrer ganzen Familie, so viel genommen hatte. Sie machte einen zaghaften Schnitt, und drehte sich dann wieder zu Streicher um.

„Noch tiefer, Miryam. Setze alle deine Kraft ein. Der Wolf ist tot, er spürt es nicht mehr.“ Seine leise Stimme klang jetzt beruhigend und ermunternd zugleich, und sie war ihm dankbar dafür. Mit einem energischen Kopfnicken versuchte sie es noch einmal, und diesmal schnitt sie tiefer.

„Ja, gut so... Und jetzt das gleiche... auf der anderen Seite...“ Seine Stimme wurde noch leiser, noch schwächer. Sie hoffte, dass er nicht ohnmächtig wurde, sie hatte Angst allein zu sein, nicht mehr seine beruhigenden Worte zu hören, die ihr sagten, was sie tun sollte.

„Ich habe es getan. Kannst Du jetzt deinen Arm befreien?“, fragte sie ihn, als sie fertig war. Er antwortete nicht. Hastig kletterte sie über den Wolf, um sich wieder an seiner Seite nieder zu kauern. Seine Augen waren geschlossen. Sie schüttelte ihn, erst zaghaft, aber dann immer ängstlicher und heftiger, während sie wieder und wieder seinen Namen rief.

Er erwachte nicht, aber dafür löste sich plötzlich der Arm aus dem Griff der Wolfszähne. Miryam starrte auf das hellrote Blut, das aus einer der tiefen Wunden heraus pulsierte.

... „Helles Blut kommt direkt vom Herzen. Das zu verlieren ist besonders gefährlich. Wenn eine Wunde deines Vaters so blutet, musst du Stoff sehr fest darum wickeln. Falls es nötig ist, mehrere Schichten übereinander. Verstehst Du, Miryam? Du musst den Prozess solange wiederholen, bis der Verband trocken bleibt, und Du musst mit aller Kraft wickeln und schnüren.“...

Er hatte sie gut gelehrt, sie hatte nicht nur den Beinstumpf des Vaters bis zur Heilung versorgt, sondern auch weitere Verletzungen, die er sich zugezogen hatte bei waghalsigen Versuchen, sich und der Familie zu beweisen, dass er noch immer ein ganzer Mann war, noch immer Dinge tun konnte, die ohne zwei gesunde Beine fast unmöglich zu bewältigen waren.

Jetzt war sie um dies Wissen dankbar. Routiniert zerkaute sie einige der Kräuter, die sie just in dieser Nacht gesammelt hatte, und presste sie in die tiefen Bißwunden. Dann wickelte sie mehrere Schichten Stoff um Streichers Handgelenk, bis schließlich die äußerste sich nicht weiter dunkel färbte. Auch die tiefen Risse auf seinem Rücken versorgte sie fachgerecht.

Erst als sie nichts weiter zu tun hatte, kehrte die Angst mit voller Wucht zurück. Sie rückte etwas näher an Streichers Körper, und ein Hauch eines fast schon vergessenen Duftgemisches erreichte ihre Nase...

... zwei Tage lang bleibt der Fremde bei ihnen, kühlt des Vaters fiebrige Stirn, versucht die Mutter zu trösten und dazu zu bewegen, sich um die Tochter zu kümmern. Aber schließlich ist es der Fremde, der Miryam Essen bereitet, sie in den Schlaf wiegt, und sie hält wenn sie weint. Er riecht nach Rauch und Wald, und nach altem Schweiß...

Seine Nähe gab ihr Mut, und ein lange vermisstes Gefühl der Sicherheit. Damals, als er sie hielt, war es das letzte mal, das jemand sie tröstend umarmt hatte. Ein Fremder war er gewesen, aber in jenen Nächten hatte sie ihn geliebt.

Sie presste sich noch dichter an ihn, schmiegte ihren kleinen Körper an seine Seite und versuchte sich vorzustellen, dass er ihr wieder das kleine Lied in der wunderschönen fremden Sprache vorsang.

Warum hatte er sie verlassen? Sie und ihre Familie allein gelassen mit dem schweren Los?

... der Vater erwacht erneut, schreit und flucht, bevor er wieder für eine kleine Weile ohnmächtig wird. Die Zeiten der Ohnmacht, der Ruhe, werden kürzer. Bald darauf geht der Fremde zurück in den Wald, mit gebeugtem Kopf und schleppenden Schritten, während die Beschimpfungen des Vaters hinter ihm her schallen...

... erst fällt es ihnen gar nicht auf, die kleinen Dinge, die ihnen das Leben leichter machen. Was sie zum Bau der Hütte kaufen müssen, kostet weniger, als es sollte. Morgens liegen manchmal kleine Gaben vor der Tür, Obst, ein Stück Wildbrett. Einmal auch ein kleiner Beutel Münzen. Der Vater kauft Schnaps davon anstatt der dringend benötigten Geräte, und seine Schimpftiraden gegen die Waldläufer werden lauter...

... eines Nachts wacht Miryam auf, und hört den Vater schreien. „Hau ab und komm nie wieder! Wir brauchen deine Almosen nicht!“. Am nächsten Morgen findet sie zertrampelte Eier vor der Tür. Die gelegentlichen Gaben stoppen...

Zunächst fast unbemerkt kamen die Tränen, dann aber umso heftiger, und sie schluchzte, bis schließlich der Schlaf sie überkam.

* * * * *

Leise Stimmen weckten sie. Erschrocken richtete sie sich auf. Das erste Licht des Morgens erhellte die Bäume und Büsche um sie herum. Wo war sie? Und wer sprach?

Plötzlich fiel ihr wieder alles ein, und hastig blickte sie sich um. Jemand hatte sie in eine dieser langen Waldläufer-Mäntel gewickelt, und auf eine dicke Schicht Laub gebettet. Zwei Männer hockten neben einer liegenden Gestalt. Sie rappelte sich hoch, befreite sich aus dem Mantel, und hastete zu der kleinen Gruppe Waldläufer.

„Streicher!“, rief sie erleichtert aus, als sie sah, dass seine Augen offen waren, und sie fiel neben ihm auf die Knie.

Er stemmte sich auf die Ellenbogen, lächelte sie an, und sagte leise: „Guten Morgen, Miryam.“

Halbarad, der ältere Waldläufer, den sie aus Butterblüms Kneipe kannte, erneuerte gerade die Verbände auf Streichers Rücken und brummte anerkennend, als er die Wunden sah. Freundlich sagte er zu Miryam: „Mädel, du hast die Wunden ausgezeichnet verbunden. Streicher hier hat uns schon von eurem Kampf gegen die Wölfe berichtet und gesagt, dass du sehr tapfer warst.“

Sie wurde rot. Lob war selten. Von Lob wird man nicht satt, und es heilt keine Wunden, pflegte ihr Vater zu sagen. Sie senkte den Kopf, fummelte nervös mit den Fingern am Saum ihres Wollmantels.

Zart umschloss eine große, mit Blut und Dreck bedeckte Männerhand ihre kleinen Finger. Sie blickte auf und sah direkt in Streichers graublaue Augen. Er sah traurig aus, und sie fragte besorgt: „Geht es dir gut? Oder müssen sie dir jetzt die Hand abschneiden?“

Der jüngere Waldläufer lachte amüsiert auf, bis ihn ein kräftiger Rippenstoß des älteren abrupt zum Schweigen brachte. Aber Miryam hatte nur Augen für Streicher. Er schüttelte leicht den Kopf und lächelte ein wenig.

„Du hast die Wunden bestens versorgt. Sie werden rasch heilen. Ich wünschte nur, ich hätte damals mehr tun können.“ Für einen Moment schwieg er, schien in weite Ferne zu blicken, dann wendete er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu: „Du hast mein Leben gerettet, Miryam. Wenn du einen Wunsch hast, dann sag ihn mir und ich sehe was ich machen kann.“

Sie sahen sich an. Miryam nagte an ihrer Unterlippe. Ein Wunsch. Normalerweise hatte sie so viele, aber jetzt, wo sie Möglichkeit bekam einen zu äußern, jetzt war ihr Geist wie leergefegt.

Der Fuß des Vaters war unwiederbringlich verloren, dass wusste sie. Ein Pferd, das ihr den einst innig geliebten und und bis heute schmerzlich vermissten Kor ersetzen könnte, konnten sie unmöglich über den Winter bringen, das Futter war zu teuer. Eine Puppe, so eine wie sie in den lieblosen Händen eines der Hobbitkinder gesehen hatte, würde den Argwohn des Vaters erregen.

Tatsächlich gab es nichts, was sie mit nach Hause bringen konnte. Der Vater würde es entdecken und ihr wegnehmen. Sie schüttelte leicht den Kopf und senkte die Augen. „Ich brauche nichts.“

Sie hörte seinen leisen Seufzer, dann rieb er sanft mit dem Daumen über ihren Handrücken. Seine Worte waren ganz leise: „Ich habe nicht gefragt was du brauchst, sondern was du dir wünscht.“

Sie blieb still, spürte wie die Tränen langsam aufstiegen, und dachte an die vergangene Nacht, und wie sie an seine Seite gepresst eingeschlafen war. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie ohne Alpträume geschlafen hatte.

„Singst du mir das Lied?“ Die Worte waren heraus, bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte. Streichers Hand umschloss die ihre für einen Augenblick so hart, dass es schmerzte, bevor er wieder etwas lockerer ließ. Es war so still, dass Miryam meinte, ihr laut pochender Herzschlag musste im ganzen Wald zu hören sein. Sie wagte es nicht, aufzusehen, und wünschte, sie hätte nichts gesagt.

Plötzlich spürte sie, wie jemand sie an sich heranzog. Streicher hatte sich in eine halb kniende, halb sitzende Position aufgerichtet, und hielt sie eng an sich gedrückt, dann begann er leise zu singen. Seine Stimme bebte zunächst, aber mit jeder weiteren der so seltsam vertrauten Strophen des geheimnisvollen Liedes wurde sie fester, und der Griff seiner Hand um die ihre sanfter. Der vertraute Geruch nach Rauch und Wald und scharfem Schweiß stieg in ihre Nase. Er wiegte sie leicht hin und her, und sie seufzte auf, schloss die Augen und entspannte sich. Einige Tränen rannen ihr über die Wangen, aber es waren nur wenige, und sie wichen einem leichten Lächeln. So sicher und geborgen hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Aber dann merkte sie, das Streichers Stimme rauer und ungleichmäßiger wurde, und er langsam vornübersank. Halbarad griff nach ihm, stabilisierte ihn, und murmelte leise: „Du musst deine Kräfte einteilen, Streicher. Der Blutverlust war hoch, du bist noch nicht über den Berg.“

Streicher nickte leicht, drückte noch einmal Miryams Hand und ließ sich von Halbarad helfen, sich wieder hinzulegen.

Miryam wünschte sich nichts sehnlicher, als für immer in der beschützenden Umarmung zu verweilen und der sanft-rauen Stimme zu lauschen, aber sie war ein großes Mädchen und wusste, es war Zeit für sie, aufzubrechen. Vater und Mutter würden bald erwachen, und unbequeme Fragen stellen, wenn sie die Tochter dann nicht auf ihrem Strohlager vorfanden. „Ich muss gehen, sonst suchen sie nach mir. Vater wäre sicher böse, wenn er wüsste, dass wir uns getroffen haben.“

Streicher hatte wieder diesen traurigen Ausdruck im Gesicht, aber er nickte verstehend, und sagte dann: „Halbond wird Dich bis in Sichtweite deines Hauses begleiten. Dabei kann er dich die Worte des Liedes lehren, wenn du das möchtest.“

Glück erfüllte sie so plötzlich und so überwältigend, dass sie auflachte. „Ich darf es lernen? Wirklich? Die Zauberworte, die die bösen Träume fernhalten? Das wäre schön...“

Halbarad und Streicher sahen sich an, hilflos, wie es ihr schien. Halbarad öffnete den Mund, aber auf ein kleines Handzeichen von Streicher hin schloss er ihn wieder. Halbond starrte sie nur sprachlos an. Streicher war es schließlich, der ihr antwortete: „Er wird es dich lehren. Mögen deine Nächte friedvoll sein, und bevölkert nur mit guten Gedanken und Träumen. Lebe wohl, Miryam, bis wir uns wiedersehen.“

Impulsiv beugte sie sich vor und drückte ihre Wange für einen Moment gegen seine rauen Bartstoppeln, dann sprang sie eifrig auf. „Komm, Halbond, lass uns aufbrechen.“

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Ende

End Notes:

A/N: Seit meinem ersten Erste Hilfe Kurs ist es eine Alptraumvorstellung für mich, an einen Unfallort mit wirklich schwer Verletzten zu kommen, und meine interne Frage, wie jemand wie Aragorn mit so etwas umgehen würde, hat diese Geschichte getriggert..., allerdings bin ich kein vom größten Heiler Mittelerdes ausgebildeter Dunadan, und würde mich vermutlich ganz unzeremoniell bewusstlos daneben legen, auf dass die Rettungsleute noch mehr zu tun hätten. Nun ja.

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